König und Knecht

Christus ging über das jüdische Konzept der Theokratie hinaus. Zur Zeit unseres Herrn war das Judentum eine theokratische Staatsreligion; der Islam ist auch heute eine theokratische Staatsreligion. Unter einem theokratischen Staat versteht man einen Staat, der politisch und sozial von Gottes Stellvertreter regiert wird. Manche Missionare im islamischen Gebiet haben nicht gleich erkannt, wie wichtig dies zentrale Thema für den Islam ist. Denn der Islam war in einem gewissen Verfall begriffen; der angreifende und erobernde Geist der Vergangenheit war durch einen müden Fatalismus ersetzt worden.

Seit dem Ersten Weltkrieg sind eine Anzahl von neuen, unabhängigen Muslimischen Staaten entstanden. Muslime überall fangen an, ihre Häupter zu erheben; Hoffnung strahlt in ihren Augen; Die Kraft des Islam führt Menschen und Nationen neu zusammen. Deshalb muß es uns interessieren zu wissen, was eigentlich die Haltung unseres Herrn gegenüber dem jüdischen theokratischen Staat war.

In den letzten beiden Generationen haben Historiker die Literatur des Judentums studiert, die vor der Zeit, in der unser Herr kam, im Schwange war. Dabei ist deutlich geworden, daß der eigentliche Konflikt zwischen den Juden und unserem Herrn in der Frage bestand, welchen Platz Israel in Gottes Plan für die Welt hat. Als erste Frage stellt sich: Warum hat unser Herr den Titel "Messias" so selten verwendet, während er den anderen Titel "Menschensohn" fast ausschließlich gebraucht hat? Wenn Paulus beweisen möchte (z.B. Apostelgeschichte 17,3), daß Jesus der Messias ist, dann möchte er nicht beweisen, daß Jesus das ist, was die Juden für einen Messias hielten. Die Messias-Idee des PauIus ist eine ganz neue Messias-Idee, die die ersten Jünger von unserem Herrn selber hatten. Wir gehen bis an den Anfang der bekannten Geschichte zurück. Könige waren eigentlich immer Priesterkönige; sie hatten stets eine direkte Beziehung zu der Gottheit der Nation. Der König konnte etwa eine Personifizierung dieser Gottheit sein, sein Bruder, sein Sohn. Wenn diese Gottheit weiblicher Natur war, konnte er auch ihr Mann sein oder ihr Sohn. Er konnte eine Inkarnation sein oder nach seinem Tode ein Gott werden. Immer war er direkt mit den Formen des Gottesdienstes jener Zeit verbunden.

Als die Israeliten in Palästina seßhaft wurden, hatten sie noch keine Könige. Alle Leute um sie herum hatten Priesterkönige. Damals baten die Israeliten um einen König, und sie bekamen einen. Er wurde nicht gekrönt, sondern gesalbt mit heiligem Öl. Er wurde der "Gesalbte Jahwes" genannt. Er war ein Priesterkönig.

Das Wort, das wir als "Messias" kennen, ist offenbar eine Kurzform von dem Ausdruck "der Gesalbte des Herrn". Aber wenn nun die von Gott gesandten Könige einer nach dem anderen versagten und es nicht schafften, Israel den Ruhm zu bringen, für den es sich selbst erwählt glaubte, weil es Gottes auserwähltes Volk war, fingen fromme und kluge Männer an, auf einen idealen Messias zu warten. Als im Exil die äußere Hoffnung vergangen war und die Juden als Nation hart getroffen waren, fingen sie an, auf geheimnisvolle Weise auf den Messias zu hoffen. Er sollte eines Tages kommen und besondere Macht entfalten; einige faßten den Gedanken, daß er schon im Himmel vorher existiert habe. Er sollte nicht nur Israel wiederherstellen, sondern ihm auch seinen rechten Platz als die große Nation auf der Erde verschaffen, weil doch Jahwe einen Bund mit ihm gemacht hat. Die anderen Nationen sollten dann die Vasallenstaaten sein. Kurz, das volkstümliche Konzept des Königs-Messias war, daß er der Herrscher eines theokratischen Staates sein sollte, der das Königreich Gottes in alle Welt hineinbringen sollte, erstens, indem er die alte Größe Israels wiederherstellte, und zweitens, indem er die anderen Nationen unter seine Weltregierung brachte. Deshalb ist es verständlich, daß der Titel "Messias" von unserem Herrn vermieden wurde. Denn so ein Königreich von dieser Welt war genau das Gegenteil von allem, was unser Herr glaubte und lehrte.

Der Ausdruck "Menschensohn" hat Theologen und Historikern für viele Generationen Rätsel aufgegeben. Unser Herr hat diesen Ausdruck nicht für sich selber geprägt, denn man findet ihn schon bei Daniel 7. Aber wo diese Idee vom Menschensohn als einem Himmelswesen unter den Juden Wurzeln gefaßt hatte, richtete sich ihr Interesse auf die Idee der endgültigen Wiederherstellung und das Ende aller Dinge. Es müßte doch den letzten Tag geben, an dem der Kampf zwischen Gut und Böse endlich aufhört, sagten sie. Dann würde all das, was durch Sünde und Bosheit geschwächt oder zerstört war, in seiner ursprünglichen Herrlichkeit wiederhergestellt werden. Der Sohn des Menschen, der dem sündigen Fleisch ähnlich war, sollte am Ende der Tage offenbart werden, um das Ende des großen Kampfes zwischen Gott und dem Satan herbeizuführen.

Als der Herr aber sich selbst Menschensohn nannte, machte er diese unbekannte Figur zu einer konkreten geschichtlichen Person.

Doch sowohl diese Idee des Menschen-Sohnes als auch die andere Idee des Königs-Messias wurden vollständig auf den Kopf gestellt, als unser Herr diese Ideen verband mit einer kleinen Gruppe von Prophetien, die man bei Jes 42,1-4; 49, 1-6; 5o,4-11; 52,13 und 53,12 findet, und diese Gedanken mit seinem Auftreten verband. Die Juden verstanden diese Prophetie nicht, hatten auch keinen Gebrauch dafür; sie waren sich nicht einmal sicher, ob es sich um Prophetie handelte. Der äthiopische Eunuch (Apg 8,32-34), ein Mann, der offenbar ganz gut in der Schrift zuhause war, macht die Ungewißheit jener Tage deutlich, wenn er Philippus fragt, ob der Prophet eigentlich

von sich selber spricht oder von jemand anders. Die Vorstellung vom Leiden und Tod widersprach der Lehre von dem Menschensohn, denn der sollte doch am Ende der Tage mit Macht und großer Herrlichkeit kommen, um Leiden und Tod zu Überwinden. Ebenso stand sie im Widerspruch zur Idee des Königs-Messias. Nicht nur, weil die Juden sich Gottes gesalbten König nicht als leidend und sterbend vorstellen konnten. Sondern der sterbende und leidende Gottesknecht hat eine universale Bedeutung. Er ist nicht darauf aus, die Vorherrschaft Israels über andere Nationen zu sichern; Vasallenstaaten werden nicht erwähnt. Er ist Gottesknecht in einer für die Juden unfaßlichen Weise.

Trotzdem hat unser Herr gerade diese Propheten und sie mit den Leidensprophezeihungen übernommen und der ganzen Geschichte Israels verbunden und die erstaunliche Wahrheit proklamiert, daß der Gerechte, der wahre Diener Gottes, leiden und sterben mußte, wenn er Gott auf der Erde verherrlichen sollte.

Alles zusammengefaßt: Unser Herr war der Messias. Er war der Menschensohn, er war der Knecht Gottes. Jede dieser drei Gestalten bekommt ein ganz neues Gepräge in der Person unseres Herrn. Der theokratische Staat, den der Messias regieren sollte, verschwand; der Menschensohn wurde eine historische Person; der leidende Knecht Jahwes wurde Messias wohl als Menschensohn, aber ohne weltliche Macht und Herrlichkeit des Herrn. Die außerordentliche Einmaligkeit die man auf diese Weise erkennt, ist für uns ganz schlagend klar. Aber daß die Juden jener Zeit nicht fähig waren, diese Einmaligkeit zu verstehen oder anzunehmen, darüber darf man sich eigentlich nicht wundern.

Ein wesentliches Ergebnis davon, daß Jesus Christus diese drei Elemente in einer einzigen Person zusammengefaßt hat, war seine besondere Haltung gegenüber dem Alten Testament. Sie wird besonders deutlich gegenüber den Gesetz des Alten Testament (der alttestamentlichen Scharia). Den Grund dafür kann man leicht finden. Die Juden standen unter römischer Regierung, das messianische Königreich war nur eine Sache der Hoffnung, der Erwartung und des Glaubens. Aber das Recht dieses Königreichs war eine sehr gegenwärtige Größe, die immerfort verbreitet, gelehrt und besprochen wurde. Deswegen wurde natürlich diese Scharia der Stein des Anstoßes zwischen unserem Herrn und der Ulema der Juden. Sie akzeptieren das Gesetz, weil es Wort für Wort inspiriert und in Kraft für alle Zeiten war.

Unser Herr sagte, daß er nicht gekommen sei, das Gesetz zu zerstören, sondern es zu erfüllen. Es würde keinen Sinn haben zu behaupten (wie es einige Muslime gerne möchten), daß das Wort "erfüllen" identisch ist mit "halten". Unser Herr hat niemals gesagt oder gemeint, daß er kam, um das Gesetz zu halten. Indem er das Gesetz, die Scharia, erfüllte, machte er es in Wirklichkeit als Gesetz überflüssig für das messianische Königreich.

Auf der einen Seite verwirft Christus (und damit das Christentum) die Idee eines theokratischen Staates, in welchem offenbarte kodifizierte Gebote das Prinzip des Gesetzes irdischer Regierungen sein können. Auf der anderen Seite behauptete Christus nicht (und deshalb tut es die Christenheit auch nicht), daß Gott die Autorität zum Regieren und Herrschen in der Weit vollständig an den Teufel oder an den Menschen selbst übergeben hätte.

Seit der Zeit des Paulus ist das Christentum angeklagt worden, das Gesetz abzuschaffen und Anarchie einzuführen; die Menschen haben einfach nicht verstanden, wie die Scharia abgeschafft werden konnte, ohne daß alle göttliche Herrschaft und Regel abgeschafft wurde.

Was das Zeremonialgesetz der Juden angeht, so wissen wir eigentlich ziemlich wenig über die Haltung unseres Herrn darüber; aber trotzdem hat er (und die Apostel nach ihm) ganz gewiß den ganzen Ballast des kodifizierten moralischen Gesetzes beiseite gefegt und es ersetzt durch eine ethische Haltung, als er die beiden Verse aus dem dritten und fünften Buch Mose über die Liebe zu Gott und zum Nächsten herausgriff und sagte, daß alles an diesen beiden Versen hänge. Aber ganz sicherlich hat er seine ethische Lehre niemals als ein kodifiziertes Gesetz angesehen, das die Gesetze der Regierung in irgendeinem Staat dieser Welt ersetzen könnte, seien sie nun theokratisch oder nicht. Wenn man sich vor Augen hält, daß unser Herr die theokratische Staatsidee verworfen hat, dann kann man auch leicht erkennen, daß seine Haltung in solch einem Staat gegenüber der Scharia auch sehr kritisch sein muß. Im Alten Testament gehörten der Bund und das Gesetz zusammen. Unser Herr verwarf nicht den Bund Gottes mit Israel, aber er verstand den Bund nicht so, daß er die Idee eines universalen theokratischen Staates schloß, und deshalb konnte er nicht die Scharia als bleibend und von universaler Gültigkeit akzeptieren. Deswegen ist die Bergpredigt typisch für die Haltung unseres Herrn. Zentrale Gedanken der alten Scharia sind hier, aber sie sind aus ihrer Bindung an einen theokratischen Staat herausgelöst. Keine Regierung auf dieser Welt, gleichgültig, wie sehr sie sich selbst als Gottes Statthalterin auf dieser Erde auffaßt, wird jemals die Bergpredigt als ihr Gesetz akzeptieren. Das Königreich Israel konnte auf dem Gesetz des Moses aufbauen; nur das Königreich Gottes, das nicht von dieser Welt, aber doch hier und jetzt als Verheißung und Hoffnung gegenwärtig ist, kann die Bergpredigt als seine Scharia haben, weil sie nicht ein Gesetz ist, dessen Erfüllung den Menschen wohlgefällig vor Gott macht.

Muslime (und einige Christen) werden Ihnen erzählen, daß der Mensch begrenzt ist durch die Unvollkommenheiten und durch die Bosheiten der Sünde und daß deswegen eine praktikable Scharia, wie die von Moses oder Mohammed, notwendig ist. Jedermann weiß, daß ein Staat Gesetze braucht. Was der Christ und der Muslim in diesem Fall vergessen, ist, daß das Wort "Scharia" ein gottgegebenes, offenbartes Gesetz für das Königreich Gottes hier auf dieser Erde bedeutet; es macht keinen Unterschied, ob das Königreich Gottes als identisch mit dem Königreich Israel oder mit dem Königreich des Islam angesehen wird. Dagegen hat sich unser Herr gewendet. Das Königreich Gottes ist das Königreich der Himmel; es ist nicht von dieser Welt. Seine Gesetze müssen persönlich, müssen direkt auf Gott bezogen und unerfüllbar sein.

Warum sollen sie unerfüllbar sein? so fragen Christen wie Muslime. Die Antwort ist einfach. Wenn ein sündiger Mensch es erreichen könnte, das Gesetz vollkommen zu halten, dann wäre er ein anerkannter und zugelassener Teil des Königreiches Gottes.

Ich will diesen sehr wichtigen Punkt noch in einer anderen Weise illustrieren. Unser Herr sagte, daß Gesetz und Propheten an diesen beiden Geboten hängen: Du sollst Gott, deinen Herrn, und du sollst deinen Nachbarn wie dich selber lieben (Mt 22,37-40). Das erste dieser Gebote stammt aus dem 5. Buch Mose, das zweite aus dem 3. Buch Mose 19,18. Man liest dort folgendermaßen: "Du sollst Dich nicht rächen und keinen Zorn tragen gegen die Kinder Deines Volkes, sondern Du sollst Deinen Nächsten lieben wie Dich selbst". Als der Pharisäer unseren Herrn bat, den Begriff "Nächster" zu definieren, hätte er sagen müssen, wenn er den Kontext, in dem das Gebot geschrieben ist, akzeptiert hätte: "Das sind die Kinder des Volkes, mit denen du Verbindung hast". Stattdessen erklärte er die Juden ausgerechnet zu Nächsten der verhaßten Samaritaner. Unser Herr nahm den Sinn, die Idee des alten Gebots und hob sie aus dem Bundesgesetz heraus, das zugleich Staatsgesetz war, und wendete sie universal und personal an.

Als unser Herr sagte: "Ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt ist - aber ich sage Euch", da hat er nicht nur das Gesetz spiritualisiert, er hat gleichzeitig in Wirklichkeit ein neues Element eingeführt. Er hat damit die Folgerung aus seiner eigenen Verkündigung gezogen: "Die Zeit ist erfüllt, und das Königreich Gottes ist nahe herbeigekommen. Tut Buße und glaubt an das Evangelium." (Mk 1,15).

Das Königreich Gottes ist ein Königreich der Himmel. Kein theokratischer Staat mit seiner Scharia wird es jemals herbeibringen. Tut Buße, d.h.wendet dieser Idee den Rücken zu und glaubt an das Evangelium. Glaubt, daß der Messias, der Menschensohn, der leidende und sterbende Gottesknecht das Königreich Gottes und Gottes Gerechtigkeit für alle Menschen gebracht hat.

Die Juden wußten, daß Jahwe sie erwählt hatte, sein Bundesvolk auf dieser Erde zu sein. Deshalb dachten sie, daß sie ein weltliches Königreich gründen sollten, das im Laufe der Zeit zum Königreich Gottes auf der Erde würde, wahrscheinlich durch das Werk eines kommenden Messias-Königs. Deswegen hatte Gott ihnen eine Scharia mit dem Bund zusammen gegeben.

Jesus sah den Sinn des Gottesbundes mit Israel nicht darin, daß Israel als Nation Gottes Statthalter auf der Erde sein sollte. Kein theokratischer Staat und keine Scharia könnte jemals Gerechtigkeit auf der Erde errichten, wenn damit Gottes Gerechtigkeit gemeint sein soll. Mit der Verwerfung des theokratischen Staates mußte er auch das Gesetz jenes Staates als das Instrument, durch das Menschen Gott wohlgefällig werden können, über Bord werfen. Gottes Gerechtigkeit konnte nur kommen, wie Jesaja sagte: durch das Leiden und Sterben des gerechten Gottesknechtes, des Menschensohnes, des Messias.

Wenn Sie die jüdischen Gedanken auf den Islam anwenden, dann werden Sie bald entdecken, wie genau sie dort zutreffen. In Einzelheiten gibt es erhebliche Unterschiede (z.B. hat das Gebot des Sabbath keine Entsprechung im Islam), aber im Ganzen ist das Bild sehr klar. Unser Herr steht in klarem Widerspruch gegen die muslimische Auffassung. Die Juden meinten, daß sie das Königreich Gottes bringen würden. Die Muslime meinen, daß sie das Königreich Gottes bringen. Unser Herr sagt zu beiden: Die Zeit ist erfüllt, das Königreich Gottes ist nahe herbeigekommen; tut Buße und glaubt an das Evangelium - das brauchst du ebenso wie jeder Mensch auf der Erde.